"Man kann auch nicht alles planen"
"Ich bin Charlotte, 17 Jahre alt, habe mich an einem Punkt in meinem Leben entschieden, ein Abenteuer zu erleben." Mit diesen Worten beginnt das Reisetagebuch von Charlotte Sinz, Schülerin der Klasse 10 G, im Lietz Internat Schloss Hohenwehrda. Die kursiven Texte stammen aus ihrem Reisetagebuch.
Im Sommer 2020 begibt sie sich - unter von Corona vorgegebenen Bedingungen - auf ihre Wanderung durch Schweden. 440 Kilometer ist der nördliche Kungsleden ("Königspfad") lang. Vier bis fünf Wochen rechnet Charlotte unterwegs zu sein. Sie muss umplanen, unterbricht ihr Vorhaben nach einer Woche, Fortsetzung ist möglich.
Das Ziel
Ich bin eine Einzelgängerin und brauche Ruhe, um nachdenken zu können. Außerdem möchte ich freundliche Menschen treffen, schöne Natur sehen und auf einem Weg gehen, dessen Name sich gut anhört: Kungsleden, der Königspfad.
Ihr Bruder läuft Jahre zuvor mehrere Wochen lang auf dem Jakobsweg bis Santiago de Compostela. Er ist damals 17 Jahre alt. Die Tour ist Teil einer Projektarbeit an seiner Schule. Er erzählt daheim von den vielen Menschen, die wie er unterwegs sind. Zu viele für Charlotte. Sie will nach Schweden, einen Teil des Kungsleden laufen - ein Stück Strecke auf ihrem persönlichen Weg zu Freiheit, Reife und Unabhängigkeit. Anreise mit Flugzeug, mit dem Zug zum Startpunkt Abisko; dann geht's nach Süden. Vier, fünf Wochen alleine in der Wildnis zu verbringen, ist die vage Vorstellung von dem, was sie erwartet. Es wird zwar nur eine Woche daraus, an deren Ende ist Charlotte aber klar, dass sie "alles schaffen kann, man nicht immer alles planen muss, es aber dennoch gelingt". Fortsetzung soll folgen, auch von ihrem Büchlein mit dem Titel: "Ich bin dann mal weg - und gleich wieder da". Gibt's irgendwann eine gemeinsame Tour von Bruder und Schwester? Eher nein, Charlotte läuft lieber alleine.
Der Plan
Ich habe zwar immer allen gesagt, ich hätte mich das ganze Jahr auf die Reise vorbereitet, aber ich hatte nur die Idee ein ganzes Jahr im Voraus, doch richtig vorbereitet habe ich mich etwa vier Wochen vorher. Und das nicht wirklich perfekt.
Mit Chips und Nachos mit Käse will Charlotte zunehmen, ihren Körper stärken. Später realisiert sie: ein blöder Plan. Sie hätte Muskeln aufbauen sollen, kein Fett. Sie packt den Rucksack. 25 Kilo, noch zu schwer. Pflegemasken, Kamerastativ, zwei von drei Zahnpastatuben müssen raus. Ein Langarmshirt packt sie ein, zwei Hosen, drei Paar Socken, Unterhosen. Sonnencreme? Ihr Vater rät: Lass die Creme hier, das ist Schweden, dort regnet es nur, spart außerdem Gewicht. Stimmt zwar, ist trotzdem ein Fehler. Dass die Sonnencreme fehlt, bereut Charlotte später. Sie ist sauer auf ihren Vater. Der Rucksack wiegt 19 Kilo, immer noch zu viel, aber okay.
Das Warum?
Ich will etwas erleben und auf die Frage, was ich in den Sommerferien 2020 gemacht habe, nicht antworten müssen: Habe am Pool gelegen und Netflix geschaut.
Später, im Zelt, bei Regen, nasser Kleidung, alleine, ohne Handynetz und Menschen, die ihre Sprache sprechen, wünscht sich Charlotte immer wieder an den Rand eines Pools und vor den Fernseher. Es sind die Momente, in denen sie fast alles getan hätte für einen wärmeren Pullover, ein größeres Zelt; für Essen, das nicht aus der Tüte stammt und nach Erbrochenem einer Katze aussieht.
Die Komfortzone
Auf meinem Gleis treffe ich auf die ersten Menschen mit großen Rucksäcken, Wanderstöcken und Outdoorkleidung. Ich gehöre dazu, grüße freundlich. Als ich mir am späten Abend im Zug die Zähne putzen möchte, fällt meine Zahnbürste bei einem Rumpeln in die Kloschüssel. Für einen Moment stehe ich still da und schaue der untertauchenden Zahnbürste geschockt hinterher.
Ihre Lieblingsschlafhose verliert Charlotte kurze Zeit später. Der Verlust schmerzt auch neun Monate später noch. Mit Überraschungen klarkommen, neue Situationen annehmen, raus aus der Komfortzone kommen - all das lernt Charlotte in den wenigen Tagen in Schweden und, dass nicht alles durchgeplant sein muss, es aber dennoch weiter geht. Es kommt wie es kommt, und man ist dennoch glücklich. Das erlebt sie vor der Reise anders, steckt in einem Korsett, strebt permanent nach Perfektion. Schon deswegen ist der Trip ein Erfolg.
Das Gleichgewicht
Ich fange an zu grinsen. Ich bin wirklich hier! Ganz alleine. Die ersten Minuten treibt mich Adrenalin an, und ich habe das Gefühl von Freiheit. Mit jedem Kilometer mehr verändert sich meine gute Stimmung in Frust und Trägheit. Es ist heiß. Bremsen und Mücken lassen keine Pause zu, so bin ich schnell am Ende meiner Kräfte. Ich verliere auf einer Planke das Gleichgewicht und lande mit dem Rucksack voraus im Sumpf. Fast bis zur Hälfte ist der Rucksack in der bräunlichen Suppe verschwunden, wütend schlage ich um mich.
Ihre Eltern überzeugt Charlotte von ihrem Plan, ihren Patenonkel Markus nicht. Er überlegt, ihr im Abstand von 500 Metern zu folgen. Ist dann doch keine Option, er lässt den Plan fallen, Charlotte erfährt erst später davon. Der "Kungsleden" sei sicher, heißt es, auch für Frauen; Bären treffe man nicht. Charlottes Eltern geben ihr ein GPS-Gerät mit, Verwandte und Freunde können so sehen, wo Charlotte sich befindet. Das Gerät hat vier Knöpfe für vier Botschaften: Die "1" bedeutet Alles okay. Abends die "2": Bin an der Hütte. "3": Geht mir nicht gut. "4" heißt: Notruf, Hilfe! Helikopter kommt.
Die Natur
Kein Mensch weit und breit. Keine Tiere außer einem riesigen Schwall Mücken. Plötzlich ein lautes Rascheln im Gebüsch. Noch nie habe ich solch einen XXL-Hasen gesehen, er geht mir knapp bis zu den Knien. Ich bin 1,80 Meter groß.
Charlotte ist ein Stadtmensch, mit Spinnen hat sie es nicht so. Das Wasser in schwedischen Seen ist kalt, auch im schwedischen Sommer. Zweimal wäscht sie sich in der einen Woche, die Haare gar nicht. Das Trocknen würde Stunden dauern. Die Socken wechselt sie einmal, das Langarmshirt trägt sie jeden Tag - und in der Nacht auch. Die Unterhose von gestern dreht Charlotte heute auf links, dann geht's noch einen Tag. Sie ist ja an der frischen Luft. Eklig wird's nur, weil Blut an den Sachen klebt. Charlotte denkt nicht darüber nach, was andere Menschen über sie denken. Sie lässt los.
Die Angst
Meine Befürchtungen, auf dem Berg in ein Gewitter zu geraten, lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Plötzlich gibt der Boden nach, ich rutsche in eine Gletscherspalte. Mein Rucksack bremst den Sturz. Zwei Meter unter mir ist eine Eisplatte. Irgendwie gelange ich wieder hoch. An meinem Körper ist alles heil, doch psychisch kann ich nicht mehr. Jemand soll mich in den Arm nehmen.
Außer ihr ist kein Mensch da, die Hoffnung auf eine entspannte, schöne Reise auch weg; aber die Angst sterben zu können ist da und die Gewissheit: Doch kein Spaß hier. Tränen fließen, hilft aber nicht. Sie muss entscheiden: Vorwärts gehen oder umkehren. Umkehr bedeutet, das bisher Erreichte zu verlieren. Charlotte läuft weiter. Vorsichtiger. Unter dem Schnee gibt es viele solcher Gletscherspalten. Das GPS-Gerät mit den vier Knöpfen trägt sie seit dem Sturz in die Spalte vorne am Gürtel. So kommt sie besser dran.
Der Schmerz
Meine Knie und Füße schmerzen von der starken Belastung, den riesigen Brocken auszuweichen oder sie zu überwinden. Hier draußen gehört das Geräusch des Helikopters zur Normalität. Wer sich verletzt, kann nur auf diesem Weg aus der Wildnis kommen.
Vor dem Trip denkt Charlotte, sie sei nicht empfindlich für Schmerz. Das ändert sich mit zunehmender Wegstrecke. Sie realisiert die vielen blauen Flecken. Danach wird jeder Schritt zu einer kleinen Prüfung, kämpft sie immer wieder gegen das Aufgeben. Den Rucksack abzusetzen bedeutet, später noch mehr Schmerzen zu haben. Ihre Schultern sind wund, die Hüfte blau von Hämatomen.
Die Menschen
Plötzlich stehen zwei Gesichter vor mir; bekannte Gesichter, die ich nicht unbedingt wiedersehen wollte. Und diesmal sprechen mich die beiden Jungs aus Belgien an und schenken mir ihre volle Aufmerksamkeit. Ich bedauere das.
Paul, 24, aus Amsterdam, gehört zu den netten Wegbegleitern. Er und Charlotte tauschen Mailadressen aus, wollen sich treffen. Vielleicht treffen sie sich auch nicht. Man kann auch nicht alles planen.
Der Moment
In der Ferne sehe ich Berge, so schön, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich tanze, springe, singe. In dem Moment habe ich das schlimmste Jahr meiner Kindheit hinter mich gebracht und das Jahr mit dieser Wanderung abgeschlossen. Es geht gar nicht um das "Lösen" von Problemen, sondern darum eine Möglichkeit zu finden, damit umzugehen. Ich muss nicht fünf Wochen laufen, um das zu verstehen. Ich habe das jetzt verstanden.
Charlotte sagt, das sei der schönste Augenblick der Reise gewesen.
Text: Martin Batzel
Fotos: Charlotte Sinz