"Internat muss man erleben, um es zu verstehen"
Jan trägt nicht nach - das erleichtert den Einstieg in das Gespräch. "Aber bitte glauben Sie mir, ich war es damals nicht. Ich war jung, heute verstehe ich Ihre Verärgerung. Aber Sie waren im Unrecht."
Die Entschuldigung seines ehemaligen Familienvaters, vor mehr als einem Jahrzehnt stinksauer wegen eines Ereignisses bei einer Familienfahrt nach Heidelberg, nimmt Jan ohne zu zögern an. Alles okay, längst abgehakt.
Es wird eine spannende Unterhaltung mit einem jungen Mann, der reflektiert über sich, seine Schullaufbahn und seinen bisherigen Lebensweg spricht. Jan Staudigl kommt im staatlichen Schulsystem mit 30, 35 Kindern in einer Klasse nicht klar; Jan ist ein aktives Kind. "Fünf von meiner Sorte damals in einer Klasse - dann ging nichts mehr und die Post ab." Wenn Jan Staudigl heute über seine Zeit als junger Mensch redet, analysiert er selbstkritisch seinen Weg von der Mittelstufe bis zum Abitur. Begleitet wird er dabei von den Pädagogen der beiden Lietz-Internate Hohenwehrda und Bieberstein.
"Ich war ein aufgeweckter Junge, der nicht ins staatliche Schulsystem passte. Dass ich kein schlechter Mensch bin, konnte ich in beiden Internaten beweisen." Grundsätzlich empfiehlt er ein Internat als Station im Leben, sagt aber auch: "Es muss auf den Typ Mensch passen." Mit zwölf Jahren wechselt Jan ins Lietz Internat Hohenwehrda, geht in die 8. Klasse im Gymnasialzweig. "Ich habe mich aktiv für Hohenwehrda entschieden, ich wollte dort sein." Er entscheidet. Seine Eltern überlassen ihm die Wahl, tragen den Entschluss mit. Nach einem kurzen Aufenthalt im Forsthaus wechselt Jan ins Nebenhaus. Sozialpädagoge Carsten Hühn wird dort sein Familienvater. Die sehr gute Beziehung wirkt heute noch nach, regelmäßig gibt es Kontakt. Seine Zeit in Hohenwehrda bezeichnet Jan als "aufregende Zeit eines Pubertierenden"; gerne denkt er zurück an die unerlaubten Exkursionen ins Dorf Wehrda und an die nötige Vorsicht und aufgebrachte Mühe, "damit Herr Müller uns nicht erwischt".
Oder auch an die mehrtägige Wanderung der Klasse 9 G im Berchtesgadener Land. Jan wandert ungern, aber die Tour in den Bergen soll den Zusammenhalt der Klasse stärken und ist Teil des pädagogischen Konzepts des Lietz Internats Hohenwehrda. Gleich am ersten Tag verliert Jan seinen Rucksack - ob kurz vor oder hinter der "Saugasse", einem sehr steilen Anstieg, weiß er nicht mehr. An den Rest erinnert er sich gut. Die Gruppe macht Pause, Jan auch, im Moment der Unaufmerksamkeit passiert es. Sein Rucksack steht auf einer Plattform nahe am Abgrund. Zu nahe. Irgendetwas darin weckt das Interesse eines Hundes; ein neugieriger Stupser, noch einer - und der Rucksack rutscht über die Kante, fällt hunderte Meter in Richtung Königssee. Socken, Seife, Schokoriegel - alles weg; die vielen Lollis, die Jan in der Hütte zuvor kauft, sind auch nicht mehr zu retten. Und drei Tage in den Bergen liegen noch vor der Gruppe. Man hilft sich, steht füreinander ein, teilt Deo und Duschzeug, tauscht Kleidung ("Von Andi Christel bekam ich einen Pulli"), die Zahnbürste aber nicht. Auch in den Bergen gibt es eine Grenze, aber in der nächsten Hütte eine neue Zahnbürste.
Andreas Christel aus Bamberg und Jan Staudigl aus Nürnberg wechseln später gemeinsam von Hohenwehrda nach Bieberstein; beide bestehen dort ihr Abitur, ihre Freundschaft besteht noch heute. Füreinander einstehen, Freunde fürs Leben gewinnen - auch das lehrt und bietet das Internatsleben bei Lietz. Jan gefällt es.
Auch in Schloss Bieberstein erfährt er die Vorzüge und Ansprüche des Internats. Natürlich gibt es Pflichten, die Vorbereitung auf das Abitur fordert Einsatz und Disziplin. "Aber das Leben war auch unbeschwert, wir hatten Spaß."
Jan schlägt die Brücke von seiner Internatszeit zu aktuellen Ereignissen. Nicht nur in Zeiten wie der Pandemie mit Kontakt- und Ausgangssperren, Sportverbot in der Öffentlichkeit, Versammlungsverbot bietet ein Internat viele Möglichkeiten: "Immer ist jemand da, wenn man reden will." Und wenn man seine Ruhe sucht - auch okay. Die Jahre im Internat in zwei, drei Sätzen zusammen zu fassen, sei schlichtweg nicht möglich. "Es war eine geile Zeit. Wer das verstehen möchte, muss es erlebt haben."
Jan denkt mit Wohlwollen zurück an Hohenwehrda und Bieberstein. In Ho wird die Basis gelegt, in Bie aufgebaut und zum Abitur geführt. Zum Internat in der Rhön fällt Jan Staudigl ein Stichwort ein: "Selbstständig werden, Eigenverantwortung lernen und übernehmen" - für sich, sein Zimmer, seine schulische Leistung, sein Leben. Auf Schloss Bieberstein lernt Jan auch, sich um seine Wäsche zu kümmern. Da ist er 15. In der E-Phase wohnt Jan bei Rainer Lange neben der Sporthalle; dann wechselt er ins Schloss. "War bequemer." Die Wege sind kürzer. Renate Thomale wird seine Familienmutter und hat maßgeblichen Anteil am Erfolg: "Sie hat mich motiviert, das Abi zu schaffen." Seine Lieblingsfächer sind Mathematik - er belegt den Leistungskurs, Physik, Wirtschaftswissenschaften. Sport und Geschichte passen auch. "Für meinen Berufsweg habe ich das Abi nicht unbedingt benötigt." Aber die Allgemeine Hochschulreife spart Zeit, hilft auch formal. Die Handwerkskammer verkürzt die Ausbildung zum Kraftfahrzeugmechatroniker um ein Jahr.
Viel wichtiger: Jan kann schon, was seine Mitauszubildenden erst noch mühsam üben müssen. "Lernen zu lernen" ist wesentlicher Bestandteil des Unterrichts in den beiden Internaten. Betriebswirtschaftslehre, Marketing, Buchhaltung in der Meisterschule laufen gut. Jan ist gut vorbereitet und besteht die Meisterprüfung mit der Note 1,9. Der Meisterbrief hängt in seinem Büro im Kfz-Betrieb seiner Eltern in Nürnberg. Jan soll den Betrieb fortführen.
Seine Schwestern, Zwillinge und drei Jahre älter, haben andere Pläne. Sie studieren Jura und BWL. Sicher können sie mit Fachwissen unterstützen, aber an den Autos schraubt ihr Bruder. Es ist ein Familienunternehmen. Jans Mutter arbeitet im Büro, sein Vater kümmert sich um Büro und Verkauf. Fünf Mechaniker arbeiten in der Werkstatt. Formal hat Jan noch einen Vertrag als Angestellter, er wächst in die Rolle des Vorgesetzten hinein, auch wenn er über sich sagt: "Ich werde mit 22 Jahren nicht als Chef auftreten." Seine Kollegen duzt er; das funktioniert, einer ist jünger, vier sind älter. Sie respektieren seine Ansagen. "Auf Bieberstein habe ich die Lehrer auch geduzt und gelernt, dass ein 'Du' nichts mit Respektverlust zu tun hat." In der Werkstatt sei ein "Sie" eh komisch. "Wenn man zusammen ein Getriebe in ein Auto hebt, wäre es mir fremd, wenn man sich dabei siezt."
Jan Staudigl ist heute ein junger Mann, der sich gerne mit alten Autos und alter Antriebstechnik beschäftigt. Sein erstes großes Projekt steht kurz vor dem Abschluss: Ein Golf der ersten Generation, Baujahr 1974, mit Vergaser. Wie man einen solchen Vergaser einstellt, lernt Jan weder in der Ausbildung noch beim Meisterkurs. Die Fähigkeit, wie man sich Wissen aneignet, lernt er als Lietz-Schüler. Noch so ein Vorteil. Das Vergasereinstellen ist nun kein Problem. Im Jahr vor der Meisterprüfung liegt das Projekt "Golf I" unvollendet in der Werkstatt.
Während der Woche kümmert sich Jan um die Kundenautos, am Wochenende lernt er für die Meisterprüfung. Der Golf wartet auf ihn, zerlegt und gereinigt in allen Einzelteilen. "Schon vor der Schulzeit habe ich Dinge hinterfragt." Das Gros seiner Spielzeuge zerlegt Jan bis in die Kleinteile und baut sie wieder zusammen. Wissen wollen, was drin sei, das mache für ihn einen guten Kfz-Meister aus. Der "Golf I", ein Sammlerstück mit 120 000 Kilometern auf dem Tacho, wird bei Jan bleiben. 150 bis 200 Arbeitsstunden stecken drin. Vielleicht wird aus dem Golf ein Ausstellungsstück für den Verkaufsraum. Auf die Straße kommt der Wagen nur bei 25 Grad Celsius und wolkenlosem Himmel. Ohne Ausnahme.
Jan Staudigl ist 22 Jahre alt und vergeben. Seine Freundin und er möchten Kinder, aber noch nicht heute und auch nicht morgen. Würde er seinen Kindern ein Internat empfehlen? "Wenn sie die gleiche Erfahrung machen wollen wie ihr Papa, dann würde ich sie bei diesem Plan unterstützen. Ja."
Text: Martin Batzel
Fotos: Jan Staudigl