Ein Leben zwischen Lietz
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Hohenwehrda


Neuseeland und Paderborn / Lerntherapeut Hans Karcher geht nach 34 Jahren bei der Stiftung in Ruhestand

Die Kultkneipe von damals gibt es heute noch: Cave 54, Heidelberg, Krämergasse 2, Seitenstraße der Fußgängerzone. Ein Musikkeller, freundlicher Empfang oben, Wendeltreppe führt nach unten ins Gewölbe. Damals wird drinnen noch geraucht. Die Ventilation ist hoffnungslos überfordert, Freitag und Samstag bis fünf Uhr geöffnet, Dienstag und Donnerstag bis drei - studentengerechte Öffnungszeiten eben.

Hans Karcher erinnert sich an "wilde Nächte". Vor dem Cave 54 geht's ins "Woiloch". Auch das gibt es heute noch, ist kein Loch sondern eine Kult-Kneipe, liegt etwa 300 Meter Luftlinie, zwei Parallelgassen und einige Biere entfernt. Hans Karcher denkt gerne zurück an seine Studentenjahre von 1977 bis 1983. Studienfächer Latein, Geschichte und Politik, Abschluss Gymnasiallehrer, beide Staatsexamina.

Drei Jahre nach dem Examen gibt es das entscheidende Vorstellungsgespräch - mit Ulrich Kindscher (ehemals Leiter des Lietz Internats Bieberstein) und Heinrich Joswig (damals Leiter in Hohenwehrda). Karcher erinnert sich gut: "Wir trafen uns in einer Kneipe in München-Schwabing." Hat sich logistisch so ergeben, schnell gibt es Einigkeit über die Konditionen. Das ist Anfang 1986. Zum 1. August 2020 scheidet Hans Karcher nach 34 Jahren aus der Stiftung, geht in den Ruhestand.

Elf Jahre lang pendelt Hans Karcher zwischen den Standorten Bieberstein und Hohenwehrda, unterrichtet bis 1997 Latein und Geschichte. Dann beginnt er die Ausbildung zum Lerntherapeuten, Karcher bezeichnet dies als "glückliche Entscheidung", schätzt die Möglichkeiten, welche die Einzelbetreuung der Schüler bietet. Noch bis 2005 unterrichtet er Latein in Hohenwehrda, dann vollzieht Hans Karcher den kompletten Wechsel "weg von fachlichen Zwängen hin zum Einzelsetting und zur therapeutischen Arbeit". Das staatliche Schulsystem als Alternative zu einer Anstellung bei der Stiftung Deutsche Landerziehungsheime ist für ihn ohnehin nie mit Reizen verbunden: "Klassen mit 30 Schülern in Latein und Geschichte zu unterrichten? Nein!" Auch der Beamtenstatus kann ihn nicht locken.

Ein Jahr arbeitet Hans Karcher in Hohenwehrda intern, betreut von 1997 bis 1998 eine Internatsfamilie im Schloss, zieht anschließend nach Wehrda. Es soll ein Provisorium sein, er bleibt dort hängen, bereut es nicht, freut sich über Familienanschluss, den kurzen Weg rauf nach Hohenwehrda, die Beschaulichkeit des Haunetals und die Gemeinschaft des Dorfes.

Karcher ist früher viel unterwegs; während eines Sabbatjahres 1997 reist er nach Mauritius, arbeitet dort mit behinderten Kindern; renoviert ein Haus in Frankreich, nimmt an internationalen Workcamps teil; reist zwei Monate durch Neuseeland. Im Schuljahr 2014/15 dauert seine Auszeit drei Monate. Die reichen für Mexiko, einen Abstecher nach Australien und eine Kur in Paderborn. War auch schön da.

Auch nach Beginn seines Ruhestandes will Hans Karcher reisen - besonders an Orte, an deren Stelle auf der Landkarte noch kein imaginäres Fähnchen steckt. Europa steht hoch im Kurs. Sprachen möchte er lernen, Französisch steht ganz oben auf der Liste. Und wo lernt man Französisch? "In Nizza, so viel Stil muss schon sein."

Egal wohin ihn die Reisen treiben, sein neues Zentrum wird die Region zwischen Karlsruhe und Heidelberg. Er wächst nahe Philippsburg auf - einer Stadt am Rhein, im Badischen gelegen, bis vor wenigen Wochen auffallend wegen zweier Kühltürme des Kernkraftwerkes. Die sind jetzt weg, waren eh lange schon stillgelegt, störten die Landschaft, wurden spektakulär gesprengt ganz früh morgens, um Touristen zu vermeiden. Kamen trotzdem sehr viele. Karcher sieht's im Fernsehen. Tut nicht weh, die Türme fehlen ihm nicht, auch wenn er mit ihnen aufwächst. Baubegin 1970, neun Jahre später läuft die Anlage. Dazwischen besteht Karcher sein Abitur am örtlichen Gymnasium. Danach Studium, anschließend die Stiftung, nun ist Schluss und schließt sich der Kreis.

Karcher kehrt zurück an den Ort, "an dem man meine Sprache spricht". Beim Badner-Lied, der Regionalhymne der Region zwischen Karlsruhe, Mannheim und Heidelberg, gibt es beim Text leichte Hänger. "Das kann ich nicht singen." Zu seiner Studentenzeit ist das Liedgut nicht en vogue. "Als Politologen und Altphilologen haben wir eher die Internationale gesungen." Beim Dialekt gibt es keine Stolperer, den spricht Karcher akzentfrei, spürt Nostalgie vorsichtig hochkriechen, denkt er an den Dom zu Speyer, die Biergärten im Badischen und an Fahrradtouren ohne E-Bike. "Ist alles flach in Baden." Wandern, sein Hobby, klappt dort auch gut. "Die Rhön, deren Wanderwege und Hütten ich sehr schätzen gelernt habe, werde ich nur als Tourist wiedersehen." Wird aber auch funktionieren; 130 Minuten braucht der ICE von Karlsruhe nach Fulda. Ohne Umsteigen. "Von meinem Wohnort bei Bad Schönborn aus bin ich auch schnell in Monnem" - Karcher sagt wirklich Monnem, nicht Mannheim - "und von dort aus kommt man schnell in die ganze Welt".

Mit 63 Jahren ist nun Schluss. Geht's jetzt erst richtig los? Wie alt will er werden? "Wenn es so bleibt wie der aktuelle Zustand, dann von mir aus 115 Jahre. Kreuzworträtsel lösen und Däumchen drehen werden nicht meine Beschäftigungen im nächsten Vierteljahrhundert sein. Ich bin ein Reiseonkel."

Und wie soll der Abschied sein? "Kurz und schmerzlos bitte." Karcher wünscht sich: "It's all over now, baby blue." In der Version von Van Morrison.







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